Kreativität

Ich muss eine Warnung voranschicken, dieser Text ist etwas länger und beschäftigt sich nur indirekt mit der Fotografie. Ich habe vor kurzem einige sehr spannende Bücher zum Thema Intelligenz, Kreativität und Weiterentwicklung gelesen und vielleicht mag ja der ein oder andere meinen Gedanken folgen.

Ich habe im letzten Jahrtausend Informatik studiert und seither interessiert mich die Forschung zur künstlichen Intelligenz, insbesondere, da ja häufig künstliche Intelligenz sehr weit gefasst wird. Kein Schachgroßmeister hat heute noch eine Chance gegen die besten Schachcomputer und Expertensysteme leisten auf ihren Gebieten Unglaubliches wie z.B. in der Früherkennung von Krebs. Aber ist das intelligent? Braucht es für echte Intelligenz im Sinne von „wie ein Mensch“ nicht unbedingt ein Bewusstsein? Wie denken wir überhaupt? Es scheint so zu sein, dass eine Vielzahl der Menschen beim Nachdenken ihre Gedanken durch eine innere Stimme vernehmen. Andere Leute, wie ich, hören nichts, was mich erst verunsichert hat, aber irgendwie entsteht ja gerade dieser Text. 😀

In der Informatik gibt es den berühmten Turing-Test aus dem Jahr 1950. Alan Turings Schicksal ist es wert, gewürdigt zu werden, in Kurzform war er ein Mathematiker und Computerpionier. Im zweiten Weltkrieg gelang es ihm mit seinem Team maschinell die Funksprüche der Deutschen zu decodieren, was den Krieg vermutlich um Jahre verkürzte und Millionen Menschen das Leben rettete. Aufgrund der Geheimhaltung wusste niemand um seinen Status als Kriegsheld, damals war Homosexualität noch strafbar, und als er „erwischt“ wurde, wurde er zur chemischen Kastration gezwungen, verfiel in Depressionen und nahm sich mit einem in Zyanid getauchten Apfel das Leben. Stoff für eine griechische Tragödie…

Der Turingtest besagt nun, dass man einer Maschine Intelligenz zubilligen muss, wenn ein Mensch im Dialog nicht zweifelsfrei feststellen kann, ob er mit einem Menschen oder mit einer Software kommuniziert. Ich finde den Gedanken interessant, aber für mich ist das zu kurz gesprungen, wenn man sich vorstellt, was Siri, Alexa & Co in einigen Jahren leisten werden.

Für mich ist die Kreativität, die Lust am Erschaffen, vielleicht ein Aspekt, der besser geeignet ist, Mensch und Maschine zu unterscheiden.

Warum fotografieren wir? Warum schreiben Menschen Bücher oder malen? Einerseits natürlich bisweilen schlicht um Geld zu verdienen, aber wahrscheinlich starten die Allermeisten aus dem Bedürfnis heraus, sich auszudrücken, etwas zu erschaffen, sich kreativ zu erleben? Der ein oder andere wird jetzt einwerfen, dass ich diese ganzen tiefsinnigen Gedanken auch sein lassen kann, es macht halt einfach Spaß. Aber warum macht es Spaß? Für mich ist Spaß nur das Ergebnis dieses künstlerischen Prozesses und damit ist für mich der Wunsch nach Kreativität vielleicht genau das, was uns von künstlicher Intelligenz unterscheidet. Kann man vielleicht einer Maschine, einem Algorithmus dann eine Art dem Menschen ähnelnde Intelligenz zuschreiben, wenn eigenständig der Wunsch entsteht, sich kreativ zu betätigen, etwas Neues zu erschaffen?

Wie kriege ich nun wieder den Bogen, was hat das mit diesem Fotoblog zu tun? Sehr viel, denn dieser Prozess der Bildentstehung, die Lust mit einem anderen Menschen kreativ zu werden, hält mir – und ich weiß, dass es vielen der Menschen vor der Kamera genauso ergeht – permanent den Spiegel vor, zumindest, wenn man das Ganze mit Anspruch angeht.

Ich arbeite jetzt seit knapp 1,5 Jahren mit Luise Lanze an einem Bildband und es ist aufschlussreich, in einem so langen und intensiven Prozess zu sehen, wie sich die eigene Kreativität von der eines anderen Menschen unterscheidet, wie man sich gemeinsam entwickelt und auch, wie die besten Ergebnisse entstehen, wenn spielerisch immer neue Ideen und Ansätze probiert, verändert und auch verworfen werden.

Dieses Zulassen und Fördern von Vielfalt ist sehr anschaulich im Buch „Kreativität – Wie unser Denken die Welt immer wieder neu erschafft“ von David Eagleman und Anthony Brandt erläutert.

Einige der Kapitelüberschriften lauten:

„Leimen Sie nie die Bauklötze fest“,

„Schaffen Sie so viele Optionen wie möglich“,

„Wagen Sie sich unterschiedlich weit hinaus“,

„Fürchten Sie sich nicht vor Risiken“

Kreativität ist somit, so eine der Thesen des Buches, erlernbar indem man bewusst Wiederholungen und Variationen zulässt, alte Denkmuster bewusst hinterfragt, ggf. zerstört und ausgetretene Pfade verlässt.

Ich bin ein großer Bewunderer einiger der Werke Hemingways und ich war verblüfft, als ich las, dass er 47 Versionen des Endes von “In einem anderen Land” geschrieben hat. Genauso verblüfft war ich darüber, dass Albert Einstein nicht nur so “Kleinigkeiten” wie die Relativitätstheorie aufstellte, sondern als kreativer Geist an so unterschiedlichen Dingen arbeitete wie einem neuen Kühlschrank, einem neuen Mikrofon, wasserfester Kleidung und tatsächlich ein Patent für eine neue Weste erhielt.

Die schönsten Shootings sind genau die, in denen man den oben aufgeführten Ratschlägen folgt und ich bin überzeugt, dass genau diese Eigenschaft, die Lust am spielerischen Erschaffen, uns noch eine ganze Weile von jedem Algorithmus unterscheidet. Zumindest hoffe ich das.

Es ist schon eine Weile her, da hatte ich mit Kyra genau so ein Shooting, in dem wir der Kreativität freien Lauf ließen und nicht ganz zufällig genau diese Fragestellungen rund ums Menschsein und Kreativität diskutierten. Die obigen und die jetzt folgenden Bilder stammen aus diesem Shooting, vielen Dank, Kyra!

In diesem Kontext sind folgende Bücher empfehlenswert: Wie unser Gehirn die Welt erschafft (von Chris Frith), Das Cambridge Quintett (von John L. Casti), Alan Turing: The Enigma (von Andrew Hodges, irgendwo um Seite 450 habe ich kapituliert 😀) und das oben zitierte Buch von David Eagleman, welches sich sehr gut zu Recherchen nach links und rechts eignet.

Olaf KorbanekKommentieren